2. Februar 2011

Mutter sein

Ich sitze mit meinem ersten eigenen Roman in der Hand da und staune.
Ich staune über einen einzigen Satz. Einen Satz, den die meisten meiner Leser vermutlich völlig gedankenlos überlesen werden - was ihnen vergönnt sei.
Aber mich hat heute genau dieser eine Satz tief berührt, tiefer, als jeder andere Satz in meinem Buch. Er steht ziemlich weit hinten, genau genommen fast am Schluss.

Und er lautet:

Nach der Geburt ihres fünften Kindes hängte sie ihre Robe an den Nagel, um sich ganz ihrer auf XL-Format angewachsenen Großfamilie widmen zu können.

Das ist ein Teil meiner Biographie. Und natürlich kenne ich diesen Satz schon länger, steht er doch so oder ähnlich auf meiner Homepage, auf Verlagsseiten, irgendwo im Blog-Profil.
Bisher habe ich beim Lesen immer an die Robe gedacht, die Anwaltsrobe, die ich wirklich gerne und leichten Herzens an den Nagel gehängt habe.
Erst heute fiel mir die Ungeheuerlichkeit dieses Satzes in Auge: ... nach der Geburt ihres fünften Kindes.
Und ich fühlte mich plötzlich unendlich reich, unendlich dankbar. Fünf Schwangerschaften, alle vollkommen problemlos, fünf Geburten, jede für sich spannend, jede für sich ein Abenteuer, das es alleine wert wäre, ein Buch darüber zu schreiben, jede für sich ein Stück Himmel. Sicher, ein Kind zu gebären ist anstrengend und immer mit Schmerzen verbunden. Aber trotzdem blicke ich auch hier auf fünf wunderbare Geburten zurück. Und jedesmal war es ein bisschen so, als ob Türen zwischen Welten sich öffnen, die sonst verschlossen sind.

Zwanzig Jahre ist es her


Und dann? Fünf quietschgesunde Kinder. Natürlich eines schöner als das andere ;-) Jedes eben auf seine Weise.
Mein erstes Kind, meine Tochter, wird in diesem Monat 20.
Zwanzig Jahre und ich frage mich, wo ist diese Zeit geblieben? Es scheint mir, dass es erst gestern war, als ich dieses winzige zerbrechliche Mädchen, dem später vier mehr als kräftige Brüder folgten, auf meinem Bauch liegen hatte.
Mein jüngstes Kind besucht noch den Kindergarten. Und auch, wenn viele das nicht verstehen können, ich bin sehr dankbar dafür, dass ich noch so viel Zeit habe, mich an das Loslassen der anderen Kinder zu gewöhnen. Denn loslassen muss ich natürlich jedes einzelne von ihnen, dessen bin ich mir bewusst.

Heute fand ich in einem anderen Blog einen Brief wieder, den ich vor langer Zeit einem meiner Kinder in sein Geburtstagebuch geklebt habe. Ein Brief von einer Autorin, die mich seit meiner Kindheit begleitet:
Astrid Lindgren.
Wer hätte über das Wunder der Geburt, das Geschenk und auch das Loslassen schöner schreiben können als diese Frau?
Deshalb will ich euch den Brief hier zeigen und wünsche vor allem den Müttern unter euch einen schönen Tag!

Brief an meinen Sohn
von Astrid Lindgren

Mein Sohn liegt in meinem Arm. Er ist eine so zarte kleine Last, man spürt sie fast gar nicht. Und doch wiegt sie schwerer als Erde und Himmel und Sterne und das ganze Sonnensystem. Wenn ich heute sterben müsste, so könnte ich die Erinnerung an diese holde kleine Last mit mir ins Paradies nehmen. Ich habe nicht vergebens gelebt.
Mein Sohn liegt in meinem Arm. Er hat so kleine, kleine Hände. Die eine hat sich um meinen Zeigefinger geschlossen, und ich wage nicht, mich zu rühren. Er könnte dann vielleicht loslassen, und das wäre unerträglich. So ein Himmelswunder diese kleine Hand mit fünf kleinen Fingern und fünf kleinen Nägeln. Ich wusste ja, dass Kinder kleine Hände haben, aber ich habe wohl nicht recht begriffen, dass mein Kind auch solche haben würde. Denn ich liege hier und blicke auf das kleine Rosenblatt, das die Hand meines Sohnes ist, und kann nicht aufhören zu staunen.Er liegt mit geschlossenen Augen da und bohrt seine Nase in meine Brust, er hat schwarzes, flaumiges Haar, und ich kann ihn atmen hören. Er ist ein Wunderwerk.Sein Vater war hier und fand auch, dass er ein Wunderwerk sei. Er muss also ein Wunderwerk sein, da wir beide es finden. Meine Liebe zu ihm tut fast weh.

Vorhin hat mein Sohn ein bisschen geweint. Wie ein kläglich blökendes Zicklein gebärdet er sich, wenn er weint, und ich ertrage es fast nicht. Wie schutzlos du bist, kleines Zicklein. Mein kleines Vögelchen, wie soll ich dich schützen? Meine Arme schließen sich fester um dich. Sie haben auf dich gewartet, meine Arme, sie waren von Anfang an für dich bestimmt, ein Nest für dich zu sein, du mein Vögelchen.Du bist mein, du gehörst mir jetzt. In diesem Augenblick bist du ganz mein. Aber bald wirst du anfangen zu wachsen. Jeder Tag, der vergeht, wird dich ein kleines Stück weiter von mir wegführen. Nie mehr wirst du mir so nahe sein wie jetzt.Vielleicht werde ich eines Tages mit Schmerz an diese Stunde denken: “Wie die klagende Saite einer Geige, wie ein Kiebitzruf auf der Heide geht die Sehnsucht der Menschen nach Menschen durch die von Menschen bewohnte Welt. Am demütigsten und tiefsten aber sehnen sich die Eltern nach den Kindern, die von den Gesetzen des Lebens in andere Zusammenhänge gerufen wurden”. Das steht in einem Buch, das ich habe.In diesem Augenblick hast du mich, aber gewiss werden die Gesetze des Lebens auch dich in andere Zusammenhänge rufen. Und dann werde ich vielleicht so ein rufender Kiebitz auf der Heide sein und vergeblich nach meinem Vögelchen rufen. Das Vogeljunge wird wachsen und groß werden. Ich weiß, dass es so sein muss.
Aber jetzt, in diesem Augenblick, habe ich dich. Du bist mein, mein – mit deinem flaumigen Kopf und deinen zarten, kleinen Fingern und deinem kläglichen Weinen und deinem Munde, der nach mir sucht. Du brauchst mich, denn du bist nur ein armes, kleines Kind, das auf die Erde gekommen ist und gar nicht ohne Mutter sein kann. Du weißt nicht einmal, was das für ein Ort ist, an den du gekommen bist, und vielleicht klingt dein Weinen deshalb so verirrt. Hast du Angst, das Leben zu beginnen? Du weißt nicht, was dich erwartet? Soll ich es dir erzählen?
Hier gibt es so viel Merkwürdiges. Warte nur, dann wirst du es sehen. Es gibt blühende Apfelbäume und kleine, stille Seen und große, weite Meere und Sterne in der Nacht und blaue Frühlingsabende und Wälder – ist es nicht schön, dass es Wälder gibt? Manchmal liegt Raureif auf den Bäumen, manchmal scheint der Mond, und im Sommer liegt Tau im Grase, wenn man erwacht. Dann kannst du auf deinen kleinen, nackten Füßen dort gehen. Du kannst auf schmalen, einsamen Skispuren in den Wald hinein gleiten – wenn es Winter ist natürlich. Die Sonne wirst du lieben, sie wärmt und leuchtet, und das Wasser im Meer ist kühl und lieblich, wenn du badest. Es gibt Märchen in der Welt und Lieder. Es gibt Bücher und Menschen, und einige von ihnen werden deine Freunde. Es gibt Blumen, sie sind gar nicht nützlich, sondern nur schön. Ist das nicht wunderbar und herrlich? Und auf der ganzen Erde gibt es Wälder und Seen und Berge und Flüsse und Städte, die du nie gesehen hast, aber vielleicht eines Tages sehen wirst. Deshalb sage ich dir, mein Sohn, dass die Erde ein guter Ort ist, um dort zu leben, und dass das Leben ein Geschenk ist. Glaub nie denen, die etwas anderes zu sagen versuchen. Gewiss, das Leben kann auch schwer sein, dass will ich dir nicht verhehlen. Du wirst Kummer haben, du wirst weinen. Es kommen vielleicht Stunden, da du den Wunsch hast, nicht mehr zu leben. Oh du kannst nie verstehen, was für ein Gefühl es für mich ist, dies zu wissen. Ich könnte mein Herzblut für dich geben, aber ich kann nicht eine einzige von den Sorgen wegnehmen, die dich erwarten. Und doch sage ich dir, mein liebes Kind:Die Erde ist die Heimat der Menschen, und sie ist eine wunderbare Heimat. Möge das Leben nie so hart gegen dich sein, dass du es nicht verstehst.
Gott schütze dich, mein Sohn!
Astrid Lindgren

5 Kommentare:

Annette Weber hat gesagt…

Was für ein wunderschöner Post, Jutta. Danke dafür.
Liebe Grüße
Annette

mirjam hat gesagt…

Liebe Jutta,
Deine Worte haben mich berührt, mein Inneres gestreichelt und mein Herz erwärmt. Ich wurde ganz rührselig beim Lesen deines Beitrages und eine kleine Träne hat sich aus dem Augenwinkel gelöst... Danke dir für diesen wunderschönen Bericht!
Herzlichst, mirjam

Gabriela hat gesagt…

Liebe Jutta
danke für diese Worte aus der Mitte des Herzens. Genau dort hinein treffen sie, in meines.
Ich könnte nun so viel schreiben, soviele Bilder steigen auf.
Und diesen Satz nehme ich jetzt mit in die Küche:
"Und jedesmal war es ein bisschen so, als ob Türen zwischen Welten sich öffnen, die sonst verschlossen sind.", ahnend, dass es ganauso auch bei der Geburt am Ende des Lebens ist, beim Tod.
Danke für deine Offenheit!
Gabriela, siebenfach verzaubert

Jutta Wilke hat gesagt…
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.
Jutta Wilke hat gesagt…

Liebe Gabriela, gerade deine Worte berühren mich sehr. Weiß ich doch, welch schweren Weg du derzeit gehst. Ich habe an dich gedacht beim Schreiben, habe überlegt, ob ich das machen kann, so fröhlich von qietschgesunden Kindern zu erzählen angesichts des Leids, das in manchen anderen Familien herrscht. Am Freitag besuche ich (ertmals) die Sternenbrücke, ein Kinderhospiz in Hamburg. Eine wunderbare Einrichtung, voller Wärme und Liebe für Kinder, deren Weg auf dieser Erde früher zu Ende geht, als wir uns das wünschen. Auch hier frage ich mich manchmal: Bin ich mit meinen gesunden Kindern für diese Eltern nicht die wandelnde Ungerechtigkeit auf Erden? Es ist nicht immer leicht, sich von diesen Ängsten frei zu machen, aber gerade das Bewusstsein dieser zweiten, anderen Welt, dieser kurze Augenblick gleich nach der Geburt, in dem wir im Gesicht unseres Kindes noch das Wissen um diesen anderen Ort erkennen können, zeigt mir, dass ich diese Ängste nicht haben muss.
Ich kenne meinen Weg und die Wege meiner Kinder nicht, ich weiß nicht, wie lange mir ein "miteinander" vergönnt ist, bis sich unsere Wege wieder trennen. Aber seit dem Augenblick der Geburt bin ich mir sehr sicher, dass es sich immer nur um vorübergehede Trennungen handeln kann.

Liebe Grüße
Jutta