14. August 2016

Ein ganz normaler Sonntag

Die Wünschelrute

Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.

(Joseph von Eichendorff)

Was für ein Start in den Tag! Ich bin mit diesen Zeilen im Kopf wach geworden. Woher kam das Gedicht auf einmal? Ich kenne es schon lange, genau genommen seit meiner Schulzeit. Mein ehemaliger Deutschlehrer hat es oft zitiert und ich habe es vom ersten Moment an geliebt. Und nach etwas gesucht.

Mein Fokus lag dabei in all den Jahren auf zwei Dingen. Auf zwei Worten, besser gesagt. Mein Fokus lag auf den Worten Wünschelrute und Zauberwort.
Wünschelrute, das hat mit wünschen zu tun. Aber auch mit suchen und finden. Mit Wünschelruten suchen Menschen nach Wasser, nach unterirdischen Energien, Strahlungen. Und zum Finden braucht man wohl das Zauberwort. So dachte ich immer. Und fragte mich oft: Was könnte dieses Zauberwort sein? Und was wollte ich eigentlich finden? Zufriedenheit? Erfolg? Das Glück? Auf der Suche nach dem Glück bin ich ständig. Wie die meisten um mich herum.
Manchmal ist es zum Greifen nah, dann ist es wieder weg, manchmal kann ich darin baden, manchmal ist es flüchtig wie Schaum, dann wieder scheint es nur ein Hirngespinst zu sein.
Trotzdem: Wir jagen, suchen und wünschen weiter.
Und dann war da ja noch das Zauberwort.
Im Grunde suchen wir doch alle nach diesem Zauberwort. Das Wort, das uns Türen öffnet und uns verborgene Schätze finden lässt. Das Zauberwort, das Hässliches in Schönes verwandelt und Böses in Gutes. Das Zauberwort, das aus Unglück Glück macht.
Ich habe mich oft gefragt, was könnte dieses Zauberwort sein, das Eichendorff hier meinte. Liebe vielleicht. Liebe ist ein großes Wort. Dankbarkeit. Ein Wort, das mir viele Türen geöffnet hat im Leben. Vergebung. Frieden. Freiheit. Alles mächtige Zauberwörter.


Als ich heute morgen im Bett lag und mir plötzlich dieses Gedicht in den Kopf kam, da hörte es sich für mich zum ersten Mal ganz anders an, ganz neu.
Ich sprach es leise vor mich hin, rezitierte es wieder und wieder und spürte, wie mein Fokus sich verschob. Weg von der Wünschelrute, weg vom Zauberwort.
Schläft ein Lied in allen Dingen, schläft ein Lied in allen Dingen ... murmelte ich die ganze Zeit. In allen.
Und plötzlich traf es mich wie ein Stromschlag. In allen.  Allen war mein Wort. Allen ist das Wort, das ich so lange gesucht habe. In allen Dingen schläft ein Lied. Nicht nur in den schönen Dingen. Nicht nur in den guten Dingen. Nicht nur in den einfachen, leichten. In allen Dingen,
In jedem Augenblick, immer und überall. Mit diesem Gedanken bin ich dann richtig wach geworden und habe mich umgeschaut. Und hatte auf einmal das Gefühl, als ob alles zu mir spricht. Wirklich alles. Der Himmel, die Sonne vor dem Fenster. Aber auch der Tisch, der Stuhl in meinem Zimmer, die Kleidungsstücke auf dem Fußboden, die leere Kaffeetasse am Bett, die Bücher neben dem Bett, die Fotos an den Wänden, alles singt, klingt und erzählt seine ganz eigene Geschichte. In allen Dingen. In allen Augenblicken. In allen. Ich habe mein Zauberwort gefunden. An einem ganz normalen Sonntag.


4 Kommentare:

Gabriela hat gesagt…

Wunderschön! Danke für das Zauberwort!
Eine singende, klingende Woche wünsche ich dir
Gabriela

Lieke hat gesagt…

Oh wie schön geschrieben! Manchmal liegt die Magie eben doch in alltäglichen Dingen - oder Wörtern :)

Jutta Wilke hat gesagt…

Danke liebe Lieke.
Ich glaube, die Magie liegt eigentlich immer in alltäglichen Dingen, nur nehmen wir sie oft gar nicht mehr wahr.
Liebe Grüße
Jutta

Jutta Wilke hat gesagt…

Bitte, Gabriela, gern geschehen ;-)
Auch wenn wir schon wieder mittendrin stecken, wünsche ich dir ebenfalls noch eine wunderbare Restwoche!
Liebe Grüße
Jutta