11. August 2017

Das Leben der anderen

"Sie wollen wohl alles haben?" Meine Therapeutin guckte irgendwie kritisch über den Brillenrand, als sie mir diese Frage stellte. Vielleicht habe ich die Kritik auch nur in ihre Frage hinein interpretiert. Vielleicht war sie gar nicht so kritisch gemeint. Auf jeden Fall habe ich sofort schuldbewusst den Kopf eingezogen und leise "irgendwie schon" gemurmelt.
Ja, ich will alles. Und davon so viel wie möglich. Der Trotz macht sich erst später in mir breit, als ich noch einmal über diese Frage nachdenke. Vorausgegangen war ihr ein Gespräch darüber, dass ich mich ständig müde und überfordert fühle. Dass ich rings um mich herum so viele Baustellen sehe, dass ich oft gar nicht weiß, wo ich anfangen soll und es dann aus lauter Frust gleich ganz lasse. Ich möchte Bücher schreiben. Natürlich. Das hat höchste Priorität. Schließlich ist das mein Beruf, der uns das tägliche Brot und Überleben sichert. Ich gucke bei Kollegen und nehme mir bestimmte Schreibzeiten, bestimmte Anzahlen von täglichen Seiten, Wörtern oder Zeichen vor. Und scheitere regelmäßig an meinen eigenen Ansprüchen. Aber die anderen schaffen das doch auch.
Nur -  ich will ja nicht nur Bücher schreiben, ich will auch Lesungen akquirieren. Und meinen Blog regelmäßig bestücken. Ich will meinen Kindern eine gute (alleinerziehende) Mutter sein, drei von fünf leben schließlich noch bei mir im Haus und brauchen  mich auch noch eine Weile. Das Haus. Da war doch noch was. Ich hätte gerne ein schönes, gemütliches, für Freunde offenes, buntes, verrücktes und vor allem auch aufgeräumtes einigermaßen sauberes Haus. Da gibt es doch die ganzen tollen Ideen in den verschiedenen Blogs, Shabby-Häuser, schwedische Häuser, so vieles kann man selbst machen, angefangen vom selbst abgeschliffenen Dielenboden bis hin zum selbstgefliesten Badezimmer, Möbel vom Sperrmüll können wunderbar aufgearbeitet werden, Zimmer in Pastellfarben designed und Tagesdecken selbst gehäkelt werden. Damit man dann vom ursprünglichen 7-Personen-Haus in den total romantischen Naturgarten mit Selbstversorgerbeeten gucken kann, die ich natürlich auch gerne noch nebenbei unterhalten würde. Denn auch dazu gibt es doch so viele Anregungen in den Tiefen des Netz, Selbstversorgung ist in, Dosenfutter out, ein Naturgarten hat nichts mit unserem brachliegenden Gartengrundstück zu tun, sondern mit selbsterrichteten Totholzhecken, Hochbeeten, Trockenmauern, Kräuterspiralen und Insektenhotels. Hätte ich gerne. Würde ich gerne machen. Klar. Ausserdem würde ich gerne 15 Kilo abnehmen, um mein Vor-5-Schwangerschaften-Gewicht wieder zu erreichen, regelmäßig wieder Sport treiben wäre also nicht schlecht, mein Liebesleben braucht auch dringend frischen Wind. Nein, keinen frischen Partner, aber mehr Zeit für den jetzigen, mehr Romantik, mehr Zweisamkeit, mehr gemeinsame Freizeit. Ach ja - und Urlaub wäre auch nicht schlecht. Für die Seele. Oder ein Yogaseminar. Ohne Yoga scheint ja gar nichts mehr zu gehen heute. Und tägliche Meditation.
Ich habe versucht, meiner Therapeutin mein Dilemma zu schildern. Meine ständige Erschöpfung, das Gefühl, nichts mehr wirklich auf die Reihe zu kriegen. Zu nichts fähig zu sein. Kein vorzeigbares Instagram-Leben zu haben. Nichtmal vorzeigbare selbstgekochte Veggie-Mahlzeiten.  Ich bin übrigens die, die gekauften Kuchen zu den Klassenfesten mitbringt und ihn vorher ein bisschen zerknautscht, damit er aussieht, wie selbstgebacken. Alle anderen Mütter übertrumpfen sich (und mich) regelmäßig mit Torten, die ganze Disneyfilme nachbilden oder farblich ins Konzept der diesjährigen Mottowoche passen.
Ja. Ich will das alles. Haben andere schließlich auch. Wie man täglich auf Instagram und Co. bewundern kann.
"Wieviele Autorinnen kennen Sie persönlich, die täglich 5-10 Seiten schreiben?", fragt meine Therapeutin. 
"Oh, das sind einige!"
"Und wie viele von denen sind alleinerziehende Mütter von 5 Kindern oder sagen wir 3 minderjährigen Kindern?", fragt sie weiter. "Und wie viele von diesen wiederum können von ihren Büchern leben? Wie viele Ihrer Netzbekanntschaften haben neben dem tollen Selbstversorgergarten auch einen Versorgerehepartner, der das nötige Kleingeld für die naturbelassenen Ziegelsteine in mediterraner Optik herbeischafft? Wie viele der Shabby-Chic-Hauseinrichterinnen kennen Sie persönlich? (Keine) Und wie viele dieser persönlichen Bekanntschaften haben Sie mal ganz überraschend zu Hause besucht, wenn die Katze nicht gerade mit viel Überredungskunst auf die farblich passende Wolldecke der mit Kreidefarben selbstgestrichenen Küchenbank drapiert worden war? Wie viele ... "
Ich unterbreche meine Therapeutin. Ich habe es ja verstanden. Der Druck, dem ich mich ausgesetzt sehe, habe ich mir selbst aufgebaut. Indem ich mich permanent mit anderen vergleiche. Indem ich zulasse, dass meine Ziele sich aus Momentaufnahmen anderer zusammensetzen, die nicht mal wirkliche Momentaufnahmen sind, sondern oft mit viel Zeit und Arbeit in Szene gesetzt wurden. Mein Tag hat nur 24 Stunden. Ich will immer noch alles. Aber was dieses "alles" ist, diese Entscheidung kann nur ich treffen. Weil nur ich mein eigenes Leben leben kann. Und nicht noch das von ganz vielen anderen. Und vielleicht werde ich in diesem Leben eben nur 500 Wörter statt 1000 pro Tag schreiben. Und eine Katze streicheln, die nicht farblich zum Vorgarten passt. Was soll's?

3 Kommentare:

Papier und Tintenwelten hat gesagt…

Huhu Jutta,
das ist ein wirklich großartger Post von dir! Ich musste oft nicken, aber auch schmunzeln. Ich kenne das aber auch, manchmal schaut man einfach zuviel nach rechts und nach links, nach oben und nach hinten und rennt dann gegen den Laternenpfahl der direkt vor einem steht. Ich finde dein Fazit klasse und ich übe mich auch daran. Häufig steht mir dann, ähnlich wie bei dir, auch der eigene Anspruch an mich selbst im Weg. Ich fordere meist nur selbst zuviel von mir. Bei anderen würde ich das nie erwarten. Ich finde es bewundernswert, was du alles meisterst und wünsche dir von Herzen, dass du es für dich umsetzen kannst und liebevoller und verständnisvoller mit dir selbst wirst. Und auch wenn die Umsetzung manchmal echt schwer ist, ist es bestimmt der bessere Weg. Du hast es verdient!
Ich wünsch dir ein schönes Wochenende und sende dir liebe Grüße, Petra
PS. Ich glaube ich hätte die Aussage auch erst als Kritik aufgefasst, aber durch das was sie später gesagt hat glaube ich, dass sie vielleicht nur zeigen wollte, dass du nur ein Mensch bist;-) Und dazu noch ein vielbeschäftigter. Vielleicht ist das mit dem "Alles wollen" etwas unglücklich ausgedrückt. Dir steht definitiv zu alles zu wollen und davon das Beste, aber wie du sagst, nicht zwangsläufig die Dinge, die andere dafür halten.

Jutta Wilke hat gesagt…

Liebe Petra,

danke für deinen langen Kommentar. Ja, ich glaube auch, dass jedem von uns "alles" zusteht. Nur müssen wir aufpassen, dass wir uns nicht zu sehr davon leiten lassen, was andere für wichtig und richtig halten.
Und vor allem falle ich tatsächlich innerhalb der virtuellen Welten sehr oft auf dieses Photoshop-Leben herein, das mit der Realität ja nur selten was zu tun hat.
Gelassenheit ist wohl das Zauberwort und davon habe ich einfach manchmal zu wenig.

Dir einen guten Start in die neue Woche!

Liebe Grüße
Jutta

Frau B. von der Kinderbibliothek hat gesagt…

Genau, diese Ausschnitte aus dem Leben werden präsentiert, vorher aufbereitet und noch schön optimiert. Es ist die Schattenseite der sozialen Netzwerke. In viel kleinerem Maßstab gibt es natürlich auch im realen Leben (wie sieht es bei Nachbars aus?), doch da vergleicht man sich in der Regel mit einer handvoll Leuten über Jahrzehnte hinweg. Nun fühlt man sich tausenden gegenübergestellt, die es irgendwie alle scheinbar besser machen. Und dann schaut man auf die eigenen Fehler und Unzulänglichkeiten (egal, ob eingebildet oder existierend) und wird deprimierter. Also Blick wenden: auf die kleinen Dinge, die man täglich schafft und das eine größere in der Woche, in dem Monat. Auf das, was man geschafft hat: auf die 5 Kinder! 5 Kinder! Grandios. Das ganze Leben mit ihnen, wie es nur Kinder schaffen, mit den vielen Auf und Abs. Auf die Bücher, die Sie schon geschrieben haben. Dann sieht man nicht nur die Mänger und Unzulänglichkeiten, sondern das Positive.