8. August 2017

Vom Leben schreiben


und vom Schreiben leben. Um 5:00 klingelt der Wecker. Schnell aufstehen, duschen, anziehen, Katzen füttern, dann einen prall gefüllten Rucksack und eine noch praller gefüllte Tasche aufs Rad schnallen und zum Bahnhof radeln.
Am Bahnhof ist schon Hochbetrieb. Warum sind die alle schon so wach? Ich bin todmüde, hilft aber nix, 150 km weiter warten nachher 25 Kinder darauf, dass ich mit ihnen eine Schreibwerkstatt abhalte und außerdem Ferientagebücher gestalte. Deshalb auch die prall gefüllten Taschen. In weiser Voraussicht sind sie mit Glitzerstickern, Maskingtapes und Buntstiften bis unter den Rand gefüllt. Im Zug ergattere ich mir einen Platz im Bistro. Ich muss ja noch die Morgenseiten schreiben, das habe ich heute ausnahmsweise nicht schon im Bett erledigt. Also Kaffee bestellen, Heft aufschlagen, losschreiben. In der Reihenfolge.
Mir gegenüber sitzt einer mit Stöpseln im Ohr. Er starrt auf sein iPhone. Als eine Frau ihn anspricht und nach einem freien Platz fragt, nimmt er nicht mal die Kopfhörer raus. Schüttelt nur den Kopf, macht sich breit. Ich beschließe, dafür ihm einen Platz anzubieten. In meinem nächsten Roman wäre noch einer frei. Wenn ich zeichnen könnte, würde ich ihn jetzt skizzieren. Kann ich nicht. Also skizziere ich ihn mit Worten. Notiere jede seiner Bewegungen. Es sind nicht viele. Nur ab und zu ein Wischen über die digitalen Welten in seiner Hand. Und eben die Knie. So breitbeinig nach außen gedrückt, dass bitte niemand auch nur auf die Idee kommen könnte, auf der Bank neben ihm sei noch Platz. Wenn er das täglich macht, so dasitzen mit gespreizten Beinen, dann werden seine Anzugshosen bald durchgescheuert sein überm Knie. Der Stoff spannt schon. Kurz guckt er hoch, zu mir rüber, aber ich bin nicht interessant genug. Dann doch lieber das iPhone. Auf der Stirn noch ein paar Haare, ebenfalls breit gefächert. Damit nur keiner denkt, es gäbe zu wenige davon auf seinem Kopf. Ich überlege, woher sein Wunsch kommen könnte, mehr zu scheinen als er ist. Mehr Haarfülle, mehr Körperfülle vorzutäuschen, als tatsächlich da ist. Wer hat ihn so klein gemacht, dass er heute so groß sein muss? Ich frage mich, wie er wohl heißt. Probiere Namen. Ob er verheiratet ist? Ist er. Zumindest trägt er einen Ring. Ob er zu Hause auch so viel Raum braucht? Ich stelle mir vor, wie er die Katze von seinem Fernsehsessel verscheucht. Ist schließlich sein Platz. Vielleicht ist er zu Hause auch ganz klein? Ich kann gar nicht so schnell schreiben wie der ICE fährt und dann ist mein Kaffee auch schon leer, meine Morgenseiten gefüllt und ich muss aussteigen. 
Einen halben Tag später, angefüllt mit Geschichten von Nixen, einsamen Delfinen, verschollenen Raumschiffen (ja, Raumschiffe. Piratenschiffe sind sowas von out!)  und am Strand vergrabenen Schätzen sitze ich wieder im ICE. Wieder im Bistro mit einem Kaffee. Diesmal will ich nicht schreiben. Sondern Pause machen. Ein bisschen lesen vielleicht. Ich krame nach meinem Buch. Aktuell Connie Palmen. I.M. Ich weiß jetzt schon, dass mich das Lesen dieses Buches mit einer unstillbaren Sehnsucht nach Nähe und inniger Vertrautheit zurücklassen wird. Trotzdem freue ich mich drauf. Da kommen zwei junge Frauen ins Bistro, Rucksäcke, mit denen sie die Welt umrunden könnten. Wer weiß, vielleicht haben sie das ja gemacht oder sie sind gerade dabei. Vielleicht ist mein ICE nur eine ihrer Stationen rund um den Globus. Sie setzen sich mir gegenüber, eine holt zwei Becher Kaffee, die andere packt ein Picknick aus, sie lachen, unterhalten sich, unterstreichen jeden Satz mit den Händen, ich verstehe kein Wort, sie reden in einem Kauderwelsch aus Englisch und einer Sprache, die ich nicht kenne. Ich gucke ein bisschen sehnsüchtig auf Conni Palmen und I.M., dann packe ich das Buch wieder ein, hole mein Schreibzeug raus. Wenn mich jemand fragt, woher ich immer meine Romanfiguren nehme, verstehe ich die Frage oft gar nicht.. Das Leben ist doch so voll davon. Voll von allem, was das Schreiben braucht. Figuren, Orte, Gefühle, Stimmungen.  Man muss sich nur hinsetzen und mitschreiben. Vom Leben schreiben. Dann kann man vielleicht auch irgendwann vom Schreiben leben. Und bis dahin gebe ich eben weiter Schreibkurse. Morgen wieder. Gleiche Uhrzeit. Gleicher ICE. Ich bin schon gespannt, wer diesmal gegenüber Platz nimmt.



1 Kommentar:

Hausfrau Hanna hat gesagt…

H♥rzlichen Dank,
liebe Jutta,
fürs Mitnehmen und Miterleben beider ICE-Fahrten :)

Liebe Grüsse zu dir
Hausfrau Hanna

PS. Ich wünsche dir dennoch, dass du während der nächsten Fahrt in Ruhe Connie Palmens grossartiges Buch lesen kannst...