Welchen Verlockungen oder Versprechen sie erlegen sind, googlen angeblich viele Engländer erst jetzt. Nach dem Brexit. Sie haben "Leave" angekreuzt und forschen jetzt nach, was damit eigentlich gemeint war. Das Internet verspricht ja zumindest schnelle Antworten. Schnelle Lösungen wird es jetzt nicht mehr bieten können. Wer in den Brunnen fällt, sollte zumindest schwimmen können. Ein Kreuzchen ist schnell gemacht, ein Like schnell gesetzt. Daumen hoch, Daumen runter. Schon im alten Rom wurde auf diese Art über so manches Leben entschieden.
Erschreckend, dass diese Art der Entscheidung immer mehr gefordert wird. Volksentscheid nennen es die einen, Referendum die anderen.
Klingt ja auch erstmal gut: Das Volk entscheidet. Jeder einzelne darf mit abstimmen, wie seine Zukunft aussehen soll. Aber darf er das wirklich? Und sollte uns nicht stutzig machen, dass gerade die rechten Flügel so auf diese Art des Volksentscheids pochen? Gerade die, die doch eigentlich sehr schnell sind mit ihren Meinungen, Vorurteilen, Parolen. Und laut.
Ist es tatsächlich noch gelebte Demokratie, wenn unsere Aufgabe nur noch darin besteht, wie Voyeure in der Arena zu sitzen und irgendwelchen Marktschreiern zu folgen, die rechte Daumen oder Hände hochrecken? Wer am lautesten schreit, kriegt die meisten Kreuzchen. Die plakativsten Parolen erhalten die meisten Likes. Und hinterher kommt dann das große Staunen. Immer wieder. Erst Mitläufer, dann Nichtwissenwoller.
Das alles hat mit Aufklärung, mit Information, mit Zusammenhänge herstellen, mit Hintergründe beleuchten so rein gar nichts mehr zu tun.
Schon in der römischen Arena ging es nur darum, wer sich am besten präsentieren konnte. Das ist heute nicht anders.
Und wir fallen wieder darauf herein. Wir. Nicht nur die Engländer. Ich finde nicht, dass uns diese händereibende Überheblichkeit zusteht. Sind wir tatsächlich so viel besser informiert? Wissen wir wirklich, worum es geht, was auf dem Spiel steht?
Es war sicher nur Zufall, dass am Tag des Brexit auch die diesjährige Nominierung für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekannt gegeben wurde. Carolin Emcke bedauerte in einem Interview das unglückliche Zusammentreffen dieser beiden Ereignisse.
Ich finde, einen besseren Termin hätte es kaum geben können. Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wird in der Frankfurter Paulskirche verliehen. Hier schuf die Nationalversammlung die erste demokratische Verfassung für Deutschland.
Die Demokratie, in der ich lebe, wurde mir von anderen in die Wiege gelegt. Ich musste nicht dafür kämpfen, ich musste sie nicht erringen. Ich darf sie leben.
Vielleicht ist es an der Zeit, sich das einmal bewusst zu machen.
Freiheit. Gleichheit. Brüderlichkeit. Menschenwürde. Meinungsfreiheit. Religionsfreiheit. Das sind nicht einfach nur Floskeln. Das ist die Grundvoraussetzung. Und es geht auch nicht um die Frage, ob Brüderlichkeit auch die Schwestern meint. Wortklauberei statt Inhalte. Darin sind wieder einige unter uns sehr gut.
Es steht etwas auf dem Spiel. Etwas, für das andere gekämpft, gelitten, sogar ihr Leben gelassen haben. Und das ist zu kostbar, als dass ich nur mit einer Handbewegung oder einem Kreuzchen darüber entscheiden möchte. Und das sollte jedem von uns zu kostbar sein.
Vor der Demokratie stand die Aufklärung. Vielleicht ist es an der Zeit, da wieder anzusetzen. Aufklären. Informieren. Über Inhalte reden. Nur selten hat der recht, der am lautesten schreit. Wir sollten daran arbeiten, dass die Marktschreier unter uns kein Gehör mehr finden, weil wir mit Denken beschäftigt sind.